neue bilder braucht grünau

Projektpräsentation zur Demokratiekonferenz 2017 »Leipzig. Ort der Vielfalt« – Rathaus Leipzig, Dezember 2017

 

greater form will Kinder und Jugendliche ermächtigen, selbstbestimmt Verantwortung für sich als Teil ihres Lebensraums zu übernehmen. Hierfür erschaffen wir seit 2015 Situationen für ästhetisches Forschen und Handeln in Leipzig Grünau.

Unsere Arbeit verstehen und gestalten wir dabei als experimentelle Praxis – zwischen verschiedenen Disziplinen und Kontexten. Von Anfang an erhielten wir dafür das Vertrauen und die Untertsützung von der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention / Koordinierungsstelle Leipzig. Ort der Vielfalt. Dafür und für die Möglichkeit unsere Arbeit heute vorzustellen vielen Dank.

greater form ist eine Projektgruppe des GIRO e.V. – sind Lina Ruske & Philipp Rödel. Das Projekt neue bilder braucht grünau haben wir in Kooperation mit Sophia Küster realisiert.

neue bilder braucht grünau (2017) suchte über vier Monate nach alten, aktuellen und neuen – persönlichen wie auch öffentlichen – Bildern des Stadtteils. In mehreren Projektphasen wurden Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene aktiv eingebunden.

Bei Bilder finden sammelten wir über drei Monate Zeichnungen von Grünauer*innen zu ihrem Lebensraum. Während Bilder erforschen und erfinden ließen wir Kinder und Jugendliche künstlerisch darauf reagieren sowie eigene Bilder finden. Die gesammelten Ergebnisse stellten wir anschließend im Rahmen der Bildgespräche – als vielstimmiges aktuelles Bild von Grünau – öffentlich zur Diskussion.

Mit neue bilder braucht grünau wollten wir möglichst viele Schnittstellen zwischen verschiedenen Einwohner*innengruppen, Öffentlichkeiten sowie Generationen des Stadtteils schaffen – wobei unser zentrales Anliegen die Stärkung und Vermittlung der Positionen der Kinder und Jugendlichen war.

 

…Bilder finden…
Wir baten Erwachsenengruppen Zeichnungen zum Thema Der Ort, an dem ich lebe anzufertigen. Diese sollten sich als Kurznachrichten an die Kids des Stadtteils richten und ihnen ein Anliegen oder eine Beobachtung vermitteln. Auch wollten wir damit zur persönlichen Auseinandersetzung und der Kommunikation in den Gruppen anregen. Hierfür besuchten wir bestehende Gruppen von Erwachsenen an ihren Orten des Zusammentreffens.

Die Beteiligten erhielten immer ein Blatt im gleichen Format, einen Fineliner und 5 Minuten Zeit um ihre anonymen Zeichnungn anzufertigen. Mit diesem reduzierten Handlungsrahmen wollten wir möglichst knappe und konzentrierte Zeichnungen ihrer ersten spontanen Reaktionen entstehen zu lassen.

Bei den Zeichnungen beobachteten wir, dass die gewählten Motive häufig aus den gleichen, gewohnten Elementen zusammengesetzt waren. Dabei wiederholten sie vor allem bekannte alltägliche Vorstellungen bzw. bildliche Repräsentationen von Schönheit, Wiederspruchsfreiheit, Behaglichkeit. Dies trifft selbst auf Bilder zu, in denen sich Brüche finden, wie Bierflaschen auf Parkbänken oder Kriminalität – der harmonische Gesamteindruck bleibt. Dieses Phänomen beschäftigte uns eine Weile.

Bei den beteiligten Gruppen – Vereine, Kollegien, Hobbygruppen usw. – war auffällig, dass das Interesse sich zeichnend an unserem Projekt zu beteiligen mit steigendem Alter stark abnahm und sogar in offensive Abweisung bis Selbstabwertung umschlug. Auch diesen Reaktionen bzw. den nicht entstandenen Zeichnungen haben wir einen Platz in der Abschließenden Ausstellung gegeben.

 

…Bilder erforschen und erfinden…
Im Jugendclub Völkerfreundschaft mitten in Grünau eröffneten wir unseren Bildraum um mit den Kids ihren Lebensraum zu erforschen. Dabei konnten sie sich auch mit den Bildern der Erwachsenen beschäftigen. Von Mai bis Juli haben wir dort in unserem offenen Angebot gemalt, gezeichnet, uns verkleidet und gepost, gespielt, Selfies gemacht, fotografiert und gefilmt – und dabei sehr viel über den Alltag der Kids in Grünau gesprochen. Der Bildraum war zu unseren Projektzeiten allen, die Interesse hatten, offen zugänglich und dabei kostenfrei. Über 50 Kinder und Jugendliche im Alter von 8-17 Jahren haben sich diesen angeeignet, und mit ihren Inhalten belebt. Manche fast durchgängig, andere punktuell.

Offenes Angebot heißt für uns: Die Kids können kommen und gehen wann sie wollen; und dabei selbst entscheiden wie sie sich einbringen, womit sie sich beschäftigen. Ausgehend von ihren verschiedenen Lebenserfahrungen, ihrem Wissen sowie Anliegen und Ängsten, arbeiten wir möglichst prozessoffen. Intervenieren bei Bedarf spezifisch. Die Basis dafür ist intensive Beziehungsarbeit. Dies ist besonders bei unserer Zielgruppe essentiell und ermöglicht nicht zuletzt auch ihnen, in intensive auseinandersetzungen einzutauchen. Was dadurch passieren bzw. entstehen kann ist dabei nicht voraussehbar. Zwei von vielen Beispielen dafür möchte ich ihnen nun zeigen.

 

Lehrer*innen / Bewertungen / Rollenspiel: Was ist eigentlich mit den Zeichnungen der Erwachsenen für die Kids passiert?

…Die Kids haben sich dafür – ehrlich gesagt – im gesamten Projekt nicht wirklich interessiert. Hierfür gibt es viele Gründe, einige haben wir versucht in unserer Publikation darzulegen. Für unsere Arbeit ist ein solches vordergründiges Desinteresse jedoch nicht problematisch, sondern zuerst einmal eine möglichen Reaktion, mit welcher es umzugehen gilt. In diesem Fall sogar eine thematisch relevante.

Z.B. eröffneten wir zwei Beteiligten die Möglichkeit, Kopien der Zeichnungen wie Lehrer*innen mit Rotstift zu beurteilen und bewerten. Die beiden waren kontinuierlich am Projekt beteiligt, dabei aber eher ruhig und zurückhaltend – gehemmt. Auf den angebotenen Rollenwechsel reagierten sie nun u.a. so:

– Alles falsch. – Hier wird nicht geschnattert. – Das könn´die Kinder alleene machen, die sind alt genug. – Ruhe Jetzt.  – Die müssen mehr üben, da passiert nichts, üben müssen die. – Wir sind hier nicht zum Diskutieren, wir sind hier zum Lernen. – Da krieg ich schon wieder ´n Anfall. – Ich wollte jetzt mal ein was sagen: Ich bin eine gute Lehrerin. – So lange ich hier bin, habt ihr nichts zu sagen. – Wer einmal abschreibt oder zum Nachbarn guckt, der bekommt eine 6. Und zwar sofort. – Ich erkläre nichts, ich sage nichts. – Ich habe Augen wie ein Adler. – Hier gilt Einzelpower. Nix Teamwork. – Wir sind hier am Gymnasium und nicht im Kindergarten. – Wenn ich sage, dass das so ist, dann ist das so. – Ich krieg Kopfschmerzen. – Dieser Lehrer geht ja gar nicht, der muss den Kindern mal Bildung beibringen statt nur rumzumeckern.

 Dies war ein Ausschnitt ihrer spontanen einstündigen Performance. Vorher griffen sie in unsere Kleiderkiste, verwandelten sich in ihre Lehrer*innen und begannen umgehend mit der Arbeit. Ab dann waren sie nicht mehr ansprechbar, reagierten aufeinander sowie gegenüber unseren Nachfragen wie eben gehört. Nach getaner Arbeit legten die beiden auch ihr aggressiv-autoritäres Verhalten umgehend ab und waren auf das Gesagte nicht mehr ansprechbar. Die Lehrer*innen wären eben nicht mehr anwesend, meinten sie.

Im Rahmen der Demokratiekonferenz scheint es mir hier wichtig die Fragen zu stellen: Welche Erfahrungen machen Kinder und Jugendliche (– mit ihren institutionellen (öffentlichen) Gegenübern)? Und… Wo sollte demokratische Bildung ansetzen? Denn wenn die Inhalte, die sich mit dem Begriff Bildung verbinden, und deren Formen so weit auseinanderklaffen, wie es die Kids vermittelt haben, dann haben wir einen Widerspruch. (zwischen Theorie & Praxis) Und der geht auch an den Kids nicht vorbei. Er findet sich wieder in ihren Haltungen, ihrem Wissen und ihrem Selbstbild (…und auch dem Bild das sie von ihren Gegenübern haben). Und… er beeinflusst ihre Kompetenzen.

Wo soll sie herkommen, die Demokratie bzw. das demokratische Subjekt? Für uns ist sie vordergründig nichts was man theoretisch erlernen könnte. Sie kann aber eingeübt werden. Durch Erfahrungen. Und zu diesen gelangt man nur durch eine entsprechende Praxis, durch tägliche und authentische demokratische Teilhabe – In allen Lebensbereichen. Und einer der wichtigsten ist… eben die Schule. In den Bildungsbiografien beginnen auch die politischen Biografien.

Sagt was ihr denkt! / Autogrammkarten: Im Projekt zeigte sich erneut, dass YouTube-Channel eines der wichtigsten Medien der Kids sind. Die Stars der Channel sind oft nicht viel älter als ihre Fans und die meisten der Kids würden gerne einen eigenen Channel betreiben. Wir wollten herausfinden, was dahinter steckt – denn was in den Channels vermittelt wird, spielt eine große (oft nicht unproblematische) Rolle in ihrer Sozialisierung. Am deutlichsten begründeten sie ihr Interesse mit dem Wunsch nach Anerkennung – was sie mit Ruhm bzw. daraus folgendem Reichtum verbanden.

Aus unseren Gesprächen folgend, schlugen wir den Kids vor, einen eigenen YouTube-Channel zu erproben mit dem Ziel Grünau zu erforschen. Um ihren Bedürfnissen folgend einen zusätzlichen Anreiz zu schaffen, boten wir an dafür Autogrammkarten der kommenden Stars zu Produzieren. Bei dem Photoshooting für diese war auffällig, wie genau sie wussten, wie sie gesehen werden wollen. Auch die Gestaltung des Hintergundbildes unseres Studios nutzten sie sehr bewusst um Bilder für ihre Wahrnehmungen ihrer Umgebung zu finden.

Als dann auch Themen und Fragen gefunden waren, konnte das Filmen im Club und auf der Straße losgehen: Wie finden Sie Grünau? Was stört Sie? Wie oft gehen Sie shoppen? Wie finden Sie ‘die Ausländer’ in Grünau? Sind ‘die Ausländer’ gut integriert? Hatten Sie schon mal Probleme mit ‘Ausländern’? Wie finden Sie ‘die Deutschen’? Stört es Sie, wenn die Kinder draußen spielen?

Mit Kamera und Mikrofon auf fremde Menschen zuzugehen, wurde zu einer wichtigen Mutprobe. Anschließend wurde jeder Interviewten stolz eine Autogrammkarte übergeben.

Besonders interessant war es z.B. zu beobachten, wie ein rumänisches Mädchen ihre Erfahrungen – aus ihrer Position zwischen deutschen und arabischen Jugendlichen – nutzte, um hier kritisch nachzufragen und zu vermitteln… und sich dabei auch selbst zu hinterfragen. Gerade die Stärkung solcher Stimmen bleibt eine der wichtigsten Aufgaben unserer Arbeit.

(Das Video Sagt was ihr denkt! finden sie auf unserer Internet.- oder Facbookseite)

 

…Bildgespräche…
Die gesammelten Beiträge von neue bilder braucht grünau präsentierten wir dann im Allee-Center. Bei den Bildgesprächen führten wir unsere geladenen Gäste (Akteur*innen aus Grünau) zusammen mit den Besucher*innen durch die Ausstellung. Wir vermittelten ihnen die verschiedenen Bilder zu und aus dem Stadtteil, die Hintergründe ihrer Entstehung und unseren Blick darauf. Es war uns besonders wichtig die unterschiedlichen Qualitäten der nicht immer sofort zugänglichen Beiträge wertschätzend herauszuarbeiten. Zu jedem fand sich ein Begleittext im Vermittlungsheft. Da die Gäste und Besucher*innen durch ihren aktiven Bezug zu Grünau reichlich interessantes beizutragen hatten, erweiterte sich nicht zuletzt auch unser Bild Grünaus. Mit diesem abschließenden öffentlichen Moment konnten wir unser Anliegen, ein möglichst vielstimmiges Bild eines Stadtteils im Wandel entstehen zu lassen, vorerst vollenden.

An neue bilder braucht grünau waren ca. 300 Person zeichnend, malend, fotografierend, filmend, sprechend, singend sowei fragend und antwortend beteiligt bzw. kamen an den verschiedenen Schnittstellen des Projekts direkt oder indirekt in Austausch.

Von den beim Bilder finden beteiligten Erwachsenen kam nur ein kleiner Teil auch zu den Bildgesprächen. Durchgängig waren Besucher*innen in der Ausstellung, suchten das Gespräch zu dieser sowie dem Stadtteil allgemein. Fast alle Kids aus dem Projekt fanden ihren Weg auch in die Ausstellung, einige waren sogar mehrere Stunden täglich dort und brachten ihre Freund*innen und Familien mit.

Die schon vorher am intensivsten beteiligten kamen von selbst um beim Aufbau zu helfen, nahmen an den Führungen teil, untersuchten aktiv die Beiträge der anderen oder hingen einfach nur bei uns ab. Ein Beteiligter verkaufte sogar voller Stolz seine Autogrammkarten um Spenden für das Projekt zu sammeln. Die Kids schienen sich, trotz Ortswechsel und zeitlichem Abstand, weiterhin mit dem Projekt zu identifizieren, die Ausstellung sogar als Bühne für sich zu nutzen.  Der größte Gewinn für uns war es, zu sehen wie sehr die Projektzeit zur Stärkung ihres Selbstwertgefühls und ihrer Selbstwirksamkeit beigetragen hat.

 

… zum Abschluss

Und auch unser Bild von Grünau hat sich durch neue bilder braucht grünau verändert. Am eindrücklichsten durch die Beobachtung, dass sich der Stadtteil im Schatten seines zweifelhaften Images  – als “Ghetto und Absteige für Hartz-IV-Empfänger” (Zitat aus dem Projekt) innerhalb der letzten 3 Jahre zu einem der diversesten Leipzigs entwickelt hat. Dort leben mittlerweile die unterschiedlichsten Menschen mit vielfältigen Hintergründen, Lebenserfahrungen und Fähigkeiten.

Auch aufgrund seiner städtebaulichen Eigenschaften hat Grünau gute Voraussetzungen, beispielhaft für Leipzig als eine wachsende Großstadt in einer zusammenwachsenden Welt zu werden. Wofür es dabei in Zukunft stehen wird, ist noch offen und wird auch daran liegen, wie wertschätzend den vorhandenen Möglichkeiten – und damit verbundenen Herausforderungen – begegnet wird. Vor diesem Hintergrund setzen wir unser Engagement in Grünau fort.